Helfersyndrom

Es kann ja sein, dass es daran liegt, dass ich in einem EDEKA-Laden aufgewachsen bin. Wer schon mit sechs Jahren hinter der Wursttheke steht und fragt „Darf’s ein bisschen mehr sein?“, der hat ganz offenbar den Dienstleistungsgedanken so sehr verinnerlicht, dass die

Hilfsbereitschaft aus jeder Pore quillt. Noch dazu, wenn dieser Jemand nach der am Markt gescheiterten Tante-Emma-Karriere in das Gastronomiegewerbe gewechselt hat und dort jahrelang mit strahlender Miene wildfremde Menschen nach ihren Wünschen fragte.

Und weil ich offenbar ständig mit dieser „Was-kann-ich-für-Sie-tun“-Frage im Gesicht rumlaufe, bekomme ich auch ständig gesagt, was ich für andere tun kann. Nicht nur zuhause, wo der Ausspruch „Das Nutella ist alle“ bei mir reflexartig Aktivitäten zur Wiederbeschaffung in Gang setzt oder die Frage „Wo haben wir denn…?“ mich aufschrecken und direkt mit der Suche nach was auch immer anfangen lässt. Nein, auch in Kneipen werde ich ganz häufig, beispielsweise auf dem Weg zur Toilette, angesprochen, ob ich noch einen Wein bringen könnte, in Kaufhäusern, ob es vielleicht noch andere Damenmode in großen Größen gibt oder ob die Bluse vielleicht so oder so oder so besser sitzt. Letzteres kann natürlich an dem rasanten Verkäuferinnenmangel der Neuzeit liegen. Ähnlich wie im Internet surft der Kunde ja in der Regel mutterseelenallein durch die Regale von Supermärkten und Kleiderständer der Kaufhäuser, bis er mit viel Glück an der Kasse, wo er seinen Warenkorb leert, auf lebende Personen trifft. Da liegt es natürlich nah, jemandem mit dem in Stein gemeißelten Gesichtsausdruck „Ich helfe gern“ anzusprechen, und außerdem weiß ich in der Tat meistens, wo sich die Dinge befinden, die eine hilfsbedürftige Person sucht. Und wenn nicht, suchen wir gemeinsam! So viel Zeit muss sein.

Und weil ich so gern helfe und suche und finde und überhaupt, halte ich in der Regel auch überall Ausschau nach Menschen, die vielleicht Hilfe brauchen. In der Anmeldung im Krankenhaus schaue ich, ob auch wirklich alle checken, wie das mit dem Nummernziehen geht, ich halte Türen für Kinderwagenschieberinnen auf, ich hebe in Zugwaggons ungefragt Koffer nach oben – auch wenn diese vielleicht grade mit Hilfe einer anderen hilfsbereiten Person nach unten gehievt wurden. Wenn man wirklich helfen will, dann darf man nicht lange fragen!

Selbst in der Hauptstadt sind die Menschen auf meine Hilfe angewiesen, wie ich am Wochenende feststellen durfte. Zunächst fragten zwei gutaussehende Pariser Damen im Schatten von Schloss Sanssouci meine Freundin und mich ganz ohne Umschweife auf Französisch, ob wir wüssten, wo sich das Chinesische Teehaus befände. Wir bedauerten – das aber in bestem Französisch – und trafen die beiden und ihre Ehemänner später an der Bushaltestelle wieder, wo sie beschlossen, uns zu folgen, um sicher und auf dem schnellsten Weg wieder zurück nach Berlin zu kommen. Wir halfen gerne und hätten ihnen beinahe noch unsere grade noch so ergatterten Plätze im übervollen Regionalzug überlassen, aber es waren ja nur zwei, und sie brauchten vier. Als sie ausstiegen, winkten sie uns freudestrahlend zu und wir waren ebenfalls sehr erfreut über diese Begegnung – Helfen hat schließlich auch eine egoistische Komponente: Es macht den Helfenden wichtig und damit glücklich.

Kaum waren unsere Franzosen aus dem Zug hatten wir schon die nächste Klientin am langen Arm: Eine junge Russin ohne jede Deutschkenntnisse hielt mir einen Reiseplan von Bielefeld nach Berlin unter die Nase und wollte wissen, wo sie aussteigen musste. Hauptbahnhof. Das würden wir ihr natürlich mit Leichtigkeit zeigen. Doch kaum war sie draußen, war sie auch schon wieder drinnen und hielt mir ihr Handy hin. Zwischen vielen Smileys, Herzchen und ganz viel Russisch poppte das Wort „Elsterwerda“ auf. „Wenn sie dahin muss, hat sie es noch weit“, ahnte meinte Berliner Freundin, während unser Zug sich weiter in Richtung Friedrichstraße in Bewegung setzte. Die junge Frau hatte keine Ahnung, wo sie war, wo sie hinmusste und dass sie dafür eine neue Fahrkarte brauchen würde. Ihr Freund hatte ihr das Wort aufs Handy geschickt. Sie wurde zunehmend verzweifelt, als der vierte Automat, den wir ausprobierten, zwar endlich die Verbindung nach Elsterwerda ausspuckte, nicht aber ihre EC-Karte akzeptierte. Erstaunlicherweise versammelten wir eine ganze Reihe hilfsbereiter Personen um uns herum, die unseren neuen Schützling aber nicht davon abhalten konnten, in Tränen auszubrechen. „Freund schon böse“, sagte sie nur, und kurz dachte ich, es sei vielleicht besser, sie bei der Bahnhofsmission abzugeben, als in den Zug in die Lausitz zu setzen, denn wer weiß, ob ihr Freund nicht einem der ältesten Gewerbe der Welt nachgehen würde. Aber wir wollen ja keine vorschnellen Urteile fällen.

Ich überlegte kurz, ihr die Fahrkarte zu kaufen, da sie kein Bar-Geld hatte – schließlich hatte ich in Potsdam auch Geld für ein sündhaft teures Paar Stiefel gehabt -, aber am Ende funktionierte ihre Karte dann doch. Wir ließen ihr einen Fahrplan bis Elsterwerda ausdrucken, ließen sie ihn fotografieren und an ihren Freund schicken, in der Hoffnung, dass er es gut mit ihr meinte… Als wir am Abend gemütlich bei einem Glas Wein saßen, dachten wir an sie.

Auf der Heimfahrt im Zug hielt ich mich mit Hilfsangeboten aller Art zurück. Ging auch.

Copyright: Ari Plikat Cartoons